Es ist ein Alptraum: kein Gefühl mehr im Arm, kein Gefühl in der Hand, kein Gefühl in den Fingern. Keine Möglichkeit, sie zu bewegen, Dinge zu begreifen oder auch nur zu spüren. Ist das Nervengeflecht eines Arms verletzt, nach einem Motorradunfall beispielsweise oder durch einen Knochenbruch nahe dem Nervenverlauf, kann das im schlimmsten Fall den Verlust sämtlicher Funktionen des Arms bedeuten - vergleichbar einer Amputation. Inklusive der chronischen Phantomschmerzen, die Patienten in die Selbstzerstörung treiben könnten, wie Professor Giulio Ingianni, Direktor der Klinik für Plastische Chirurgie am Klinikum Wuppertal, weiß.
"Durch die ständige Betäubung der Schmerzen droht die Gefahr, medikamenten- oder alkoholabhängig zu werden", sagt er. "Oft werden dann Familien und soziale Bindungen zerstört." Und der Alptraum beginnt. Es gibt kaum einen Bereich, in dem sich Nervenverletzungen dramatischer auswirken als in den oberen Extremitäten. Die differenzierte Beweglichkeit und Feinmotorik der Hand, beim Spielen von Instrumenten oder beim Bedienen von Tastaturen, und das sensible Gefühl zur Wahrnehmung von Oberflächen und Temperaturen ermöglichen uns, Intelligenz, Kreativität und Emotionen auszudrücken.
In rund 60% aller Arbeitsunfälle aber sind die Hände betroffen - und in vielen Fällen auch die Nervenbahnen. Die Behandlungsmöglichkeiten solcher Verletzungen haben sich seit gut 20 Jahren erheblich verbessert. Seither erlaubt die Mikrochirurgie Operationen unter dem Mikroskop, mit bis zu 21-facher Vergrößerung. Dabei werden extrem feine Instrumente verwendet.
"Die Fäden sind dünner als ein Frauenhaar und oft nur mit Lupe oder Mikroskop zu sehen", sagt Ingianni. Mit den Eingriffen unter dem Mikroskop wird versucht, die Nervenbündel so zusammen zu bringen, dass möglichst viele wieder ihr Pendant finden - und die Funktionen so weit wie möglich wieder hergestellt werden. So einfach wie das Zusammenschweißen eines Elektrokabels ist das Wiederverbinden von Nervensträngen jedoch nicht. Ihre körperfernen Enden sind vor der Operation gewissermaßen nur noch Hüllen ohne Inhalt, in die die Stümpfe nach der Verknüpfung erst langsam hineinwachsen müssen - mit etwa einem Millimeter pro Tag. In extremen Fällen, bei sehr schweren Nervenverletzungen, kann es bis zu zweieinhalb Jahre dauern, bis die Fasern ihr Ziel erreicht haben.
Die Gefahr ist, dass in dieser Zeit die Muskelmasse, die zum Ausführen der Bewegung nötig ist, dahingeschwunden ist. Deshalb, so warnt Ingianni, "sollte man bei der Vermutung einer Nervenverletzung möglichst bald operieren und nicht Wochen oder Monate warten und darauf hoffen, dass das Gefühl schon irgendwann und irgendwie wieder zurückkehren wird." Auftreten können Nervenverletzungen nicht nur bei stumpfen Verletzungen wie Brüchen, sondern beispielsweise auch durch Schnitte oder Stiche. Auch bei Operationen wie dem Entfernen von Lymphdrüsen am Hals oder in der Achselhöhle können versehentlich Nerven, die nahe der Lymphdrüsen verlaufen, durchtrennt werden.
Die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit nach einer Operation der verletzten Nerven liegt im Durchschnitt bei rund 70%. Bleiben Defizite zurück, kann eine fehlende Funktion durch Ersatzoperationen zurückgewonnen werden. Dabei werden zum Beispiel Sehnen von der Beuge- in die Streckstellung umgesetzt. "Man muss dabei immer abwägen, was schwerwiegender ist", erklärt Ingianni, "der Verlust der abgegebenen Funktion oder der Nutzen der neu gewonnenen."
In jedem Falle ist eine engmaschige Kontrolle nach der Operation sehr wichtig. Normalerweise wird spätestens alle 3 Monate untersucht, wie weit das Wachstum der behandelten Nerven vorangeschritten ist und in welchem Maß ihre Funktionsfähigkeit wieder hergestellt ist. Krankengymnastische Übungen verhindern in der manchmal sehr langen Heilungszeit ein Versteifen der Gelenke, durch Ergotherapie werden Feinmotorik, Koordination und das Zusammenspiel der Bewegungen eingeübt. Besonders langwierig kann die Heilung bei einer Gesichtslähmung verlaufen.
Doch auch dort haben die Erfahrungen und Ergebnisse aus den vergangenen Jahren gewaltige Fortschritte gebracht. Großes Potential für die Zukunft birgt nach Ansicht von Ingianni vor allem die künstliche Entwicklung von Nervenfasern, das "tissue engineering". Während der Körper fremdes Material gewöhnlich abstößt, könnte die Züchtung körpereigenen Gewebes eine neue Chance eröffnen, fehlende Abschnitte bei Nervenverletzungen zu ersetzen. Die Experimente und Forschungen dazu laufen noch.
Das Wissen um Nervenoperationen und -transplantaten hat sich übrigens aus der Gesichts- und Handchirurgie sowie die Chirurgie der oberen Extremitäten entwickelt und gehört primär in das Fachgebiet der Plastischen Chirurgie.
Letzte Aktualisierung am 29.07.2015.
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